Schein, Wirklichkeit und darüber hinaus

The objective content of an occasion of experience sorts itself out under two contrasted characters—Appearance and Reality. It is to be noticed that this is not the only dichotomy exhibited in experience. There are the physical and the mental poles, and there are the objects prehended and the subjective forms of the prehensions. In fact this final pair of opposites, Appearance and Reality, is not quite do fundamental metaphysically as the other two pairs. [...] Unfortunately the superior dominance in consciousness of the contrast ‚Appearane and Reality‘ has led metaphysicians from the Greeks onwards to make their start from the more superficial characteristic.

A.N. Whitehead, Appearance and Reality

[in:], Adventures Of Ideas, New York: Simon &  Schuster, 1933, p. 209.

Truth is a qualification which applies to Appearance alone. Reality is just itself, and it is nonsense to ask whether in be true or false. Truth is the confirmation of Appearance to Reality. […] A reflexion in a mirror is at once a truthful appearance and a deceptive appearance.

A.N. Whitehead, Civilisation: Truth,

[in:], Adventures Of Ideas, New York: Simon &  Schuster, 1933, p. 241.

The word "reality", it should be noted, is a euphemistic term. Why should we call the sense world, appearance, and the world discovered by thought, reality? In answer to this question we may point out the empirical fact that things get differentiated into those which are important and those which are unimportant, into those which are interesting and those which are uninteresting. Such distinctions are symptomatic of interest and expressive of temperament. Now the distinction between appearance and reality is just one of these impressive and significant human distinctions.

M.T. McClure, Appearance and Reality in Greek Philosophy,

[in:] Studies In The History Of Ideas, New York: Columbia University Press, 1918, p. 2.

The first task of historians of ideas is to use relicts from the past to reconstruct as historical objects the weak intentions that constitute the hermeneutic meanings of utterances made in the past.

M. Bevir, On Objectivity,

[in:] The Logic of The History Of Ideas, Cambridge: Cambridge University Press, 1999, p. 78.

 

An der Schwelle erster Dezennien des 21. Jahrhunderts wendet der Internationale Club für Ideengeschichte der Jagiellonen-Universität in Krakau dem Wettstreit zweier Grundbegriffe der frühen Neuzeit besondere Aufmerksamkeit zu: der Kultur und der civilisation/civilization. Dieser dem Zeitalter der Aufklärung entsprungene Wettstreit begleitete beinahe zwei Jahrhunderte lang, etwa vom 1750 bis 1950, die Abenteuer des europäischen Denkens. Während dieser Zeit wurden die Zweideutigkeiten der britischen civilization und der französischen civilisation oft der deutschsprachigen Kultur gegenübergestellt (Binoche 2005).Nun ist es auch wahr, dass die beiden Konzepte sich zutiefst, vor allem im Zeitalter bestimmter Ambitionen der Nationalvölker, mit den politischen Doktrinen Europas gemischt haben.Nicht ohne den vortrefflichen Beitrag von Arnold Joseph Toynbee und der Vertreter der Frankfurter Schule sollte aber die lange Zeit eklatante Opposition von Kultur und civilization/civilisation zu Beginn des 20. Jahrhunderts an Bedeutung verlieren.Das Ende des Zweiten Weltkrieges brach nicht nur definitiv den Wettstreit der Konzepte ab, sondern trug auch zum neuen Verständnis des Kulturbegriffes und dessen bei, was wir als cultural turn (aufgefasst im Singular oder im Plural, wie z.B. Doris Bachmann-Medick in ihrem Bestseller unter dem Titel Cultural Turns) seit kurzem bedenken (Bachmann-Medick 2008).

Als eines der letzten Zeugnisse dieser alten - noch im Wettstreit der erwähnten Begriffe verankerten - Perspektive können wir das von Alfred North Whitehead dargestellte Konzept der civilization betrachten, das er im 1933 veröffentlichtem Überblick unter dem Titel Adventures of Ideas schuf. Die Konstruktion der seit der griechischen Antike skizzierten civilization wird hier mittels einer äußerst reinen und ausgewogenen Architektur auf fünf Hauptsäulenerrichtet, d.h. der Wahrheit, der Schönheit, der Verknüpfung der Wahrheit mit der Schönheit, der Abenteuer und des Friedens.In diesem architektonischen Ausblick der civilization enthüllt Whitehead die Hauptknoten des Begriffsrasters, die unentbehrlichen Elemente der Kontinuitätskizze des westlichen Gedankengutes. Er versucht die philosophischen Hauptaspekte dieses Konzepts aufzuklären, indem er das Problem des „Anscheins" und der „Wirklichkeit" freilegt, das seit dem platonischen Höhlengleichnis nicht mehr den Kanon bedeutender Motive des westlichen Denkens verlassen kann. Diese Dichotomie sollte aber laut Whitehead lange Zeit unnötig die Aufmerksamkeit der Philosophen verführen.

Allerdings  setzt diese Dichotomie ihren Einfluss auf das gegenwärtige Denken - und dies mit direkter Auswirkung - fort, die zwischen dem linguistic turn und den pictorial, visual oder iconic turns zu verzeichnen sind. Die Früchte dieser neuen Sicht sind zahlreich: die Philosophy of Mind eines P.M.S. Hacker,  Visual Studies und Visual Culture oder, wie Bachmann-Medick dies im Bezug auf den deutschsprachigen Kontext beobachtet, die Schwindel erregende Entwicklung partikularer Fachkonstellationen um die gerade entspringende visuelle Empfindsamkeit: die Bild-Anthropologie, dieBild-Medienwissenschaft, dietranskulturelle Bildkulturwissenschaft oder die interdisziplinäre Allgemeine Bildwissenschaft (die immer öfter der Linguistik gegenübergestellt wird, dieser interdisziplinären Herangehensweise, die lange das deutschsprachige Denken unter dem Namen der Allgemeinen Sprachwissenschaft dominierte). Die konzeptuelle Vielfalt ist nicht überraschend für eine Denktradition, in der der Bild-Begriff sich stark in der Art und Weise der Welterfassung eingebürgert hat und den Barbara Cassin zu den „unübersetzbaren" Termini zählt (Cassin 2004). Es ist zugleich wahr, vor allem im globalen Kontext, dass der iconic turn oft die Bedeutung einer anderen Revolution des ausgehenden 20. Jahrhunderts relativiert, die mit sich die Übersetzungskehre gebracht hat, der bekannte translational turn nämlich mit seinen Translational Studies, die wiederum auf ein neues Verständnis, eine (Re)Interpretation der Kultur und ihrer Phänomene zielen. 

Es scheint, als ob diese Dichotomie auch die Aufmerksamkeit des breiten Publikums anziehen sollte. So z.B. haben neulich auf Arte Raphaël Enthoven (Journalist des Radiosenders France Culture und Moderator des Fernsehsenders Arte) und Alexander Schnell (Lehrbeauftragter an der Sorbonne und Koordinator des Austauschsprogramms Erasmus Mundus „EuroPhilosophie") nach Lösungen des Dilemmas des Verhältnisses des Anscheinens der Wirklichkeit gegenüber gesucht. 

Um dasselbe Problem anzusprechen, d.h. Sein und Schein, wählte Mischa Kuball, zeitgenossischer Künstler aus Berlin, eine andere Weise der Problembegegnung, die er Platon's [sic] Mirror nannte. In der Zeit der spektakulären Ausdehnung eher gesellschaftlicher und politischer als philosophischer Aspekte des Problems, schlägt Kuball vor, die Relation Scheinhaftigkeit-Wirklichkeit, Dichtung-Wahrheit oder, kurz und bündig, Anschein-Wirklichkeit im Rahmen einer Ausstellung und eines performing zu beleuchten.

Schattenseiten und Illusion, Lichtspiele und Bilder, die Kuball erweckt, werden ab September 2011 in Sydney und in Wellington und anschließend in Krakau einem breiten Publikum zur Schau gestellt. Dies geschieht eine Dekade nach einer schmerzhaften Zäsur der Gegenwartsgeschichte, dem berühmten 11. September 2001. Zweifelsohne war dieser Tag der Zeitpunkt des Wechsels in der Art und Weise der Welterfassung. Der September 11th turn wurde auch zum Ausgangspunkt einer  hastigen Suche nach einer eher (Re)konstruktion als einer (De)konstruktion verschiedener metaphysischer Aspekte des westlichen Denkens. Zugleich versuchte man die Basis eines neuen Konzepts der western civilization zu schmieden. Insofern werden zugleich der Begriff sowohl der Kultur als auch der Zivilisation, aber auch des Anscheins und der Wirklichkeit dem Schatten entrissen und kehren in voller Stärke ins Epizentrum vor allem des politischen Diskurses zurück.

Der Internationale Club für Ideengeschichte der Jagiellonen-Universität (in Zusammenarbeit mit Goethe-Institut Krakau und dem Institut Français in Krakau) hat das Vergnügen, Sie zu einem Podiumsgespräch zum Thema „Schein, Wirklichkeit und darüber hinaus" einzuladen, das im breiten gegenwärtigen Kontext  (sowohl im historischen als auch gesellschaftlichen, politischen und philosophischen) am 8. Dezember in Krakau stattfinden soll. Anlass dafür liefert die dank der Unterstützung des Goethe-Instituts Krakau im Auditorium Maximum der Jagiellonen-Universität vorgesehene Ausstellung KuballsPlaton's [sic] Mirror. 

Der von den Organisatoren gewählte Zeitpunkt fällt zusammen mit der Übernahme der Präsidentschaft der Europäischen Union von Polen, dem Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts und der Erinnerung an den Kurswechsel in der Weltpolitik, die seitdem als „antiterroristisch" aufgefasst wird und die um das neue Konzept einer „westlichen Zivilisation" ringt.Die Fragen entstehen von selbst: „inwiefern unterscheidet sich die gegenwärtige Vorstellung von den früheren Auffassungen der Zivilisation" und „ist die Dichotomie Erscheinung-Wirklichkeit noch aktuell oder kann man sie einfach vergessen"? 

 

Krakau, den 23. Januar 2011                                                     Michel Henri Kowalewicz 

 

 

 

Anhang:

Einleitendes zum Micha Kuballs Ausstellungsvorhaben Platon's mirror

 

Einführung*

Das Höhlengleichnis Platons aus dem 7. Buch der Politeia ist einer der einflussreichsten Texte der europäischen Literatur mit einer Rezeptionsgeschichte, die ihresgleichen sucht. Im Höhlengleichnis formuliert Platon die Unterscheidung zwischen zwei Formen der Wirklichkeit: der sichtbaren Realität und der (wahren) Realität der Ideen. Diese Unterscheidung zwischen einer lügenhaften und nur scheinbaren, dem Augenschein zugänglichen Wirklichkeit, und einer wahren, nur dem Intellekt des Eingeweihten zugänglichen Wirklichkeit hatte nicht nur entscheidenden Einfluss auf die Philosophie des Christentums, sondern auch auf die gesamte Philosophie der Renaissance. Ohne die Rezeption von Platons Höhlengleichnis sind weder die gotischen Kathedralen mit ihrer Lichtsymbolik noch die Malerei, Skulptur und Architektur der Hochrenaissance denkbar.

Trotz der zornigen Absage Nietzsches an die aus seiner Sicht mit dem Platonismus verbundene Verneinung der Welt, stellte die Auseinandersetzung mit dem Erbe des antiken Philosophen noch im 20. Jahrhundert eine herausragende Aufgabe für die Philosophie dar (Karl Popper, Alain Badiou) – und ein äußerst breitenwirksames Thema für den Film (Matrix).

Einen Künstler wie Mischa Kuball (* 1959), der sich wie kein zweiter in seiner Kunst mit dem Phänomen des Lichts auseinandersetzt, musste das Höhlengleichnis zur künstlerischen Auseinandersetzung herausfordern. In zugleich einfachen und höchst effektiven Anordnungen mit Projektoren und reflektierenden Silberfolien, Photographien und Videos schafft Kuball einerseits Räume, die als Gleichnisse der Platon'schen Höhlensituation zu verstehen sind, andererseits übersetzt er in seinen Photographien und Videos das komplexe Verhältnis von Lichtquelle, Spiegelung, Schattenriss und Abbild in scheinbar endlos zu erweiternde Mediationsstufen, auf denen sich Wirklichkeit als die Wirklichkeit ihrer Reflexion immer erneut konstituiert. Die Beschäftigung Kuballs mit dem Thema des Höhlengleichnisses erfolgt in einer Zeit, in der das Problem „der Realität" kaum mehr unter philosophischen, sondern fast ausschließlich unter soziologischen und politischen Gesichtspunkten gestellt wird. Die Rede von der „Performativität" alles Realen macht scheinbar die Suche nach dem, was wirklich sei an der Wirklichkeit, überflüssig. Mit Kuballs Rekurs auf Platon ist die Frage verbunden, ob sich tatsächlich so einfach alle Wirklichkeiten als sozial konstruiert abtun lassen, und ob die Vernunft noch als Instrument zur Hand ist, um zwischen Scheinhaftigkeit und Wirklichkeit zu unterscheiden. Insofern lässt sich seine Arbeit „Platons Spiegel" nicht nur als Problematisierung der Aktualität Platons verstehen, sondern auch als Wiederbefragung der klassischen Verknüpfung von Lichtmetaphorik und der Idee des aufklärerischen Denkens.

* Der vorliegende Text wurde ursprünglich vom Performance-Autor in der deutschen und der englischen Sprache geliefert.

Publikationsdatum: 07.06.2012
Herausgeber: Konrad Szocik

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